Schleifrillen – was ist ihr Sinn?

Zum ersten Mal bewußt gesehen habe ich die Schleifrillen in Felsen während meiner Erkundung Nubiens 1961. Sie befanden sich oft nahe bei den gestößelten oder geschliffenen Felsbildern von Giraffen, Straußen, Gazellen und anderen Tieren, hatten aber keinen erkennbaren Zusammenhang mit ihnen. Ich schwankte eine Zeit lang, ihnen einen Sinn beizulegen, konnte aber keine vernünftige Erklärung finden. Die Rillen waren in den nicht gerade weichen Fels geschliffen, einige mehr als daumentief, andere nur schwach sichtbar im prallen Licht, ohne jeglichen dekorativen oder sinngebenden Wert. Fast immer lagen ganze Reihen von Rillen nebeneinander, fehlten aber an anderen Felsen, die nicht weniger geeignet gewesen wären. Wer ein Messer oder sonstiges Gerät schleifen will, muß das auf dem flachen Felsen tun, nicht das Gerät in den Felsen hineinreiben, denn davon wird es nur stumpf.
Auf meine neugierigen Fragen bei den wenigen Menschen, die ich in Nubien noch antraf – der Staudamm sollte ja bald fertig sein und das Wasser dann allmählich den ganzen Landstrich überfluten – erhielt ich keine Antwort. Waren die Rillen ein Geheimnis oder eine vergessene Sitte der Vorfahren?
Später gewöhnte ich mich daran, daß an „heiligen“ Plätzen, manchmal auch an weniger heiligen, häufig diese Rillen zu sehen sind, von Spanien bis in die Mark Brandenburg. An der Außenseite von Kirchen treten sie gehäuft auf, und nicht nur an echten Steinen sondern vielfach auch an Ziegeln; aber auch hier immer nur in Gruppen nahe beieinander, nicht wahllos am Gebäude oder Gemäuer verteilt.

Schleifrillen GoslarSchleifrillen Givrezac
Abb. 1: Am Dom in Goslar - Abb. 2: An der romanischen Kirche in Givrezac / Charente Maritime (Frankreich)

Der einleuchtendste Erklärung wurde mir erst gegen 1999 bekannt. Ein Erforscher der heimatlichen Vor- und Frühgeschichte, Joachim Jünemann, antwortete auf meine Fragen, daß die Rillen beim Herausschaben von Heilstaub entstehen, und daß dieser Brauch bis heute geübt wird. Er veröffentlichte seine Ansicht bereits 1977 und 1980 in der Beilage zur Deutschen Apotheker Zeitung.
Bekannt ist, daß schwangere oder Schwangerschaft herbeisehnende Frauen seit uralter Zeit Heilmittel einnehmen, deren Wirkung heute als nicht nachgewiesen gilt, aber durch lange Generationenfolgen sich bewährt haben muß. Steine enthalten Mineralien, die manchmal unserer Nahrung fehlen. Sie könnten zur Erfüllung des Kinderwunsches beitragen.
Unterstützt wird diese Erklärung durch die Kenntnis, daß in der Schweiz gewisse Felsen, die Näpfchen aufweisen, „Chindlisteine“ (=Kindersteine) heißen. Es könnte sein, daß die Näpfchen mit dem Bohrer angelegt wurden, um den dabei entstehenden Steinstaub als Heilmittel – hier zur Fruchtbarkeit – anzuwenden. An einigen Kirchen in der Mark Brandenburg sehen wir Näpfchen neben Schleifrillen im selben Gemäuer.

Schleifrillen MelkowSchaberillen
Abb. 3 : Kirche in Melkow in der Mark Brandenburg - Abb. 4: Kirche in Tremmen in der Mark Brandenburg (die Kirche war Pilgerziel von ungetauften Wenden und hatte eine Wendenkanzel für Predigten außen an der Westfassade, an deren Ecke befinden sich die Schaberillen).

Das Ausschleifen von Rinnen an Kirchen oder anderen Gebäuden ist stets an der vertikalen Wand erfolgt, bequem in Reichweite eines Menschen, so daß der anfallende Ausrieb leicht aufgefangen werden kann. Warum aber wurden immer nur einige Steine bevorzugt benützt, manchmal auch in einer Reihe am selben Gebäude, aber nicht wahllos? Hatten die Initiatoren Kenntnis von dem besonderen Wert der Mineralien gerade an dieser Stelle, vielleicht durch den Magnetismus des Ortes?
Es bleiben viele Fragen, doch ein erster Schritt ist mit diesem Erklärungsversuch getan.

Schleifrillen AyllonAbb. 5: Am Rathaus in Ayllon /Kastilien (Spanien)Colmar 2003Abb. 6: An der Colegiata in Colmar/Elsaß 2003

 

Lit.:
Jünemann, Joachim: "Rillen und Näpfchen auf sakralen Denkmalen", in: Beiträge zur Geschichte der Pharmazie, Deutsche Apotheker Zeitung, Beilage 1977 (4) S. 24–31, und "Nachlese zu Rillen ... " 1980 (7) S. 49-54.

Siehe auch meine beiden Beiträge in IC-Nachrichten 77 (1996) und 83 (2000)

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